Samstag, 7. Oktober 2017

Frau Grabowski, die oben in der Mansardenwohnung in unserem Mietshaus wohnte, damals, vor einer Ewigkeit.
Ich erinnere mich an sie und erinnere mich nicht. Ich weiß nicht mehr, wie sie aussah oder wie sie klang.
Ein paar mal war ich in ihrer kleinen Wohnung, saß dort auf dem Sofa und machte etwas Konversation.
Brauntöne, schummriges Licht, Stille.
Ich mochte Frau Grabowski, auf eine befangene Art. Ich glaube, wir waren beide befangen, wenn ich sie besuchte. Keine Ahnung, wie eine Vier- oder Fünfjährige auf dem Sofa einer alten Dame landet, mit der sie nicht verwandt ist, ein Höflichkeitsbesuch wohl. Offensichtlich überfiel Frau Grabowski mich nicht mit Fragen oder Süßigkeiten oder Euphorie oder anderen Aufdringlichkeiten, da würde ich mich dran erinnern. Es war ruhig.
Ich fragte mich damals immer still, auf welche mirakulöse Art sie mit dem gleichnamigen Maulwurf aus meinem Bilderbuch verbunden war. Denn dass sie es war, dessen war ich mir sicher. Die ganzen Brauntöne, die Dunkelheit, dieser Hauch von Trauer, der in jedem Winkel ihrer Wohnung zu schlummern schien.
Ob sie das Buch gar geschrieben hatte? Ich traute mich nicht zu fragen.
Es war Anfang der Siebziger Jahre, und sie war schon eine alte Frau.
Sie schien keine Familie gehabt zu haben. 
Ich möchte wissen, wer sie war. Ich möchte wissen, wo sie herkam und wohin sie später ging. Ich möchte wissen, was sie besaß, was sie träumte, was sie verlor. Ich möchte ihre Erinnerungen.
Ich möchte Fragen stellen, die eine befangene Vier- oder Fünfjährige, die auf Höflichkeitsvisite geschickt wurde, nicht stellt.
Frau Grabowski ist fort, gegangen.
Es sind Spuren, die mich beschäftigen. 
Menschen, die gehen, ohne je eine Spur zu hinterlassen.
Auf Friedhöfen finden sie sich häufig, vernachlässigte Gräber, auf dem Grabstein ein einzelner Name, darunter zwei Daten. Mehr nicht.
Von den beiden Daten eingefasst ein Leben, das von niemandem mehr bezeugt wird.
Was mag alles zwischen diesen beiden Daten gelegen haben? Ein Universum an Möglichkeiten, ein ungeheurer Reichtum. Aber was auch immer es war, jetzt ist es vergangen und weggeweht, eine leichte Brise reichte aus.

Es ist diese Flüchtigkeit.

Es ist Herbst.

1 Kommentar:

Der Herr Alipius hat gesagt…

Hieß die im Familien-Jargon nicht "Witwe Grabowski"?