Montag, 12. November 2012

Orangenes Tamburin

Bei uns in der Fußgängerzone standen sie eben wieder, die Jungs, eine Combo, die machen so eine Art Gipsy-Music, sie stehen immer an der Ruhr oder in der Fußgängerzone. Ich nenne sie die "70 Jahre Knast", in Ermangelung eines Namens, so sehen die nämlich aus, die Musikanten, als brächten sie es in der Summe auf ein paar Jährchen, machen aber Spitzen-Musik. Ich sage immer, dass ich sie mal auf einer Party von mir aufspielen lassen werde, obwohl ich weiß, dass ich das nie tun werde (Shalom). Einmal ging ich an ihnen vorbei, im Sommer, an der Ruhr, und hab nichts in den offenstehenden Geigenkasten geworfen, da haben sie mir eine freche Phrase hinterhergetutet, das ist das Schlimmste, was ich von ihnen berichten kann. Sie sind freundlich und bestens gelaunt. Eben standen sie also da und machten ihre Gipsy-Music, oder Gipsy-Style-Music, die spielen nämlich alle Titel Gipsy-Style, auch Alle Meine Entchen, sie stehen da und fideln und tuten, und vor ihnen steht eine Frau, die hat ein orangefarbenes Tamburin in der Hand. Sie ist mittelalt, hat einen blonden Pferdeschwanz, ist gut gekleidet. Sie steht seltsam steif und schlägt das Tamburin hart und konsequent am Rhythmus vorbei. Manchmal setzt sie auch aus und und wippt in den Kniekehlen, unbeholfen, unsicher, um den Rhythmus wiederzufinden, den sie nie hatte. Sie lächelt, mit dem Mund, schwach und wehmütig, aber in den Augen stehen schon Tränen, echte Säufertränen, selbstmitleidig und gerührt, bereit, jeden Augenblick hervorzuspringen. Dann, wenn die Fassung verlorengeht, pflegen sich diese Menschen  gegen Deine Schulter zu lehnen und ihr ganzes Elend auszubreiten, dich einhüllend in eine atemberaubende Fahne und ihren Weltschmerz. Aber so weit ist die Tamburin-Lady noch nicht. Noch kämpft sie heroisch gegen ihren Schmerz und die Musiker tun alles, um nicht aus dem Takt zu kommen. Der Klarinettist schaut ihr aufmunternd in die Augen und  nickt mit dem Kopf, vielleicht in der verzweifelten Hoffnung, sie in den Takt zu bringen. Der Quetschkommendenspieler steht weit zurück und erdolcht sie mit Blicken, echten Killerblicken, bei denen jeder Nüchterne sofort das Weite suchen würde.
Und ich frag mich nur: "Wo hat die das orangene Tamburin her?"
Ist das nicht seltsam? Mir ist egal, wie sie heißt, wo sie sich so furchtbar hat volllaufen lassen oder womit oder warum, ob es sich um einen Einmalvorfall handelt oder Unsitte, das einzige, was mich interessiert ist, ob die wohl immer mit einem orangefarbenen Tamburin durch die Stadt läuft, um unbescholtene 70 Jahre Knast Gipsy-Style-Musicians aus dem Takt zu bringen? Hat sie das für wen gekauft, der sie dann furchtbar enttäuscht hat? Sie ausgeladen hat von seiner Feier, obwohl sie sich wochenlang den Kopf zerbrach über ein Geschenk, das sagt: "Hey, ich hab mir Gedanken gemacht über Dich?". Gehört das jemandem, der sie verließ? Den sie so furchtbar vermisst, dass allein der Klang dieses seines oder ihres Instruments ihr noch Leben einhaucht?
Ich weiß es nicht. Ich hoffe, sie weiß es morgen früh noch.

4 Kommentare:

Der Herr Alipius hat gesagt…

Super! Du hast ein Geschichten-Schreiber-Hirn! Du beobachtest nicht nur, sondern du fragst auch warum und wieso und weshalb, und es springen dann gleich kleine Geschichtchen in Deinem Kopf auf und rufen "Hier! Nimm mich!"

Charlotte hat gesagt…

Fratello mio! :-)
Wie heißt es in "Blackadder" so schön? Manche Geschichten tanzen nackt vor dir auf dem Klavier und singen "Happy Days Are Here Again", will sagen: Man kommt schlecht dran vorbei.

Der Herr Alipius hat gesagt…

Malen sich purpurn an und tanzen nackt auf dem Klavier!

(Immer-schön-kanonisch-bleiben-Alipius hat gesprochen)

Charlotte hat gesagt…

Verzeiht, Hochwürden!

(In die Knie brech)