Montag, 15. November 2021

Neulich, an der Wohnungstür

Früher Abend. Herbstdunkel. Eine stille Wohnung, leise rauscht die Heizung, flackerndes Kerzenlicht auf den Wänden. Auf der Couch die Lässige, mit ihrer Xbox beschäftigt. Frieden.

Es klingelt, ich merke auf, ich drücke auf.

Heraufgestiefelt kommen zwei Mädchen, um die 10 Jahre alt. Mütze, Zopf, die Martinslaterne in der Faust. Ein inzwischen ungewohntes Ereignis. Ich bin mindestens genau so verlegen wie die beiden. Als sie sich vor mir aufgebaut haben, breche ich unter dem Druck der Geschehnisse zusammen. Ich schnappe mir die Schüssel mit Süßigkeiten, die in der Diele seit Tagen Staub ansetzt, und frage: "Wollt Ihr direkt und das Singen überspringen?!"

Die beiden beschämen mich mit ihrer Entschlossenheit. Sie schütteln verneinend den Kopf, schauen sich an, nicken sich ernst zu und legen los: "Sankt Martin, Sa-hankt Maartin...!" Der absolute Klassiker, und das nicht gerade verhalten gesungen. Ich kann mich kaum lassen vor Rührung. Irgendwann entgleitet ihnen der Text, sie beenden die erste Strophe mit "sein Mantel trug ihn fort geschwind.", was der Würde ihrer Darbietung keinen Abbruch tut. Ich reiche ihnen die Schüssel, sie bedienen sich, wir bedanken uns gegenseitig, sie schwirren ab.

Ich hoffe, dass im nächsten Jahr wieder Martinszüge stattfinden, ich komme langsam aus der Übung, was Rührung angeht, das ist nicht gut. Da muss man im Training bleiben, für die Seelengeschmeidigkeit. 

Mittwoch, 20. Oktober 2021

Mülheim, Auberg, Oktober 2020

Mein letztes Wort dazu.

 Versprochen.

Aber es geht noch einmal um Laubbläser. Denn es ist Oktober, und es ist ein Ding der Unmöglichkeit, jene nicht wahrzunehmen.

Es ist Vormittag. Ich sitze im Büro, und draußen steht der Hausmeister, mit dem Laubbläser. Er pustet die Blätter auf dem Parkplatz vor sich her. Vor einer halben Stunde bekam ich eine Unwetterwarnung auf mein Handy, schwere Sturmböen, gilt für den ganzen Tag für ganz Deutschland.

Ich könnte jetzt das Fenster öffnen, das ich wegen des Lärms und des Benzingestanks geschlossen hatte, und den Laubmeister fragen, ob er auch mit einem Besen an den Strand ginge. Oder - moderater - ihn darauf hinweisen, dass es heute eine steife Brise geben soll, die seine Arbeit überflüssig machen könnte.

Aber ich müsste gegen den Laubbläser und das schlecht justierte Hörgerät des Laubmeisters anbrüllen. Also starre ich lieber in die schwankenden, ausladenden Baumkronen, die unseren Laubmeister mächtig umstehen und sich schon verhalten warmrauschen. Leichte Lockerungsübungen für ganz große Kerle. Bonne chance, Laubbläser. 

Ich lasse los. Wir alle brauchen eine Aufgabe. Und Vergeblichkeit hat ja auch was Philosophisches. Mögen die Dinge ihren Lauf nehmen.

Dienstag, 12. Oktober 2021

04.03.2021

Ein freier Tag, ein alter Film und eine flauschige Plauze. Trotzdem eher trüb.

Es ist noch Morgen. Ich sitze im Bett, trinke Kaffee, und schaue „Die Seltsame Gräfin“, Deutschland, 1961, nach einem Roman von Edgar Wallace. Neben mir döst die Katze, sie hat sich an meinen Oberschenkel gelegt und teilt ihre Wärme, das Zimmer ist noch kühl

Ich habe die vier Miss Marple-Filme mit Margaret Rutherford durch, jetzt ist kalter Entzug angesagt. Also schaue ich deutsche Krimis, die behaupten, in England zu spielen, und die so deutsch sind wie Bockwurst und Badelatschen.

Im Augenblick ist mir nach nüchternen, schwarz/weißen, unaufwändigen Filmen, schnell und preisbewusst gedreht, keine existenziellen Fragen aufwerfend, keine CGI-Orgien. Einfach ein paar bodenständige Schauspieler und etwas altbackenes Krimi-Brot, ein Funkgerät, eine Telefonzelle und flackernde Taschenlampen, deren Batterie genau zur rechten Zeit streikt. Gerades Spiel ohne selbstironischen Tinnef. Alte Schule eben. 

Der Film ist streckenweise unruhig, hart geschnitten. Dauernd will eine unbekannte Macht der jungen Protagonistin ans Leder, also führt sie häufig die geballten Fäuste an die Schläfen, schüttelt wie rasend den Kopf und ruft: „Ich kann nicht mehr!“ oder Ähnliches.

Joachim Fuchsberger passt auf sie auf. Er macht Judo-Rollen, verpasst Handkantenschläge und hält sein eckiges Kinn in die Kamera, ein Kinn wie in Hollywood. Manchmal ein grimmiges Lächeln.

Eddy Arent und Klaus Kinski als die üblichen Knallchargen. Kinski ist hoffnungslos drüber. Irres Augenflackern, Lippenzucken, wirre Rede und wirres Haar. Die dunkle Seite des Mondes präsentiert einem Publikum, für das ein gelockerter Krawattenknoten schon den Auftakt zu Wahnsinn und sexueller Ausschweifung bedeutete. Seht her, so sieht sie aus, die geistige Umnachtung! Erschaudert!

Sehr nice: Lil Dagover als seltsame Gräfin. Sie trägt bodenlange, schmale Kleider, hüftlange Ketten, übertrieben hohe Stehkragen, Diademe, Armbänder und andere Klunker. Sie geht nie. Sie schreitet, oder sie huscht. Wenn sie huscht, befinden sich ihre Hände immer auf Höhe ihrer Schultern, die Ellenbogen sind ausgestellt, und sie geht leicht in die Knie. Einmal trägt sie eine Kerze beim Huschen. Episch. Wenn sie Dir misstraut, legt sie den Kopf in den Nacken und starrt Dich aus halbgeschlossenen Augen an. Eine Morticia Adams mit Expressionisten-Hintergrund. 

Als Antagonistin Marianne Hoppe, ungeschminkt und unfrisiert, fade Klamotten, fester Blick, grade Haltung, die Ruhe selbst. Die haut nichts um. Am Schluss starrt sie die Gräfin, diese Swarovski-Fledermaus, in Grund Boden, eine Frau wie ein Baum. Meine Oma war ein echtes Fangirl von Marianne Hoppe, eben hab ich sie deswegen nochmal gegoogelt, und ich muss sagen, props. Eine beeindruckende Frau.

Die Katze neben mir hat kein Vertrauensproblem so wie die Gräfin. Sie liegt auf der Seite und präsentiert ihren flauschigen Bauch. Sie schläft nicht, sondern schaut zum Fenster. Draußen trommeln die Regentropfen aufs Fensterblech und hüpfen an die Scheibe. Denken Katzen nach? Philosophieren sie an einem trüben Tag über das Leben? Freut die Katze sich, hier drin zu sein, anstatt da draußen? Oder vermisst sie ihre Freiheit?

„Einen Penny für Deine Gedanken, Puppe“, das passt in einem Film der 1960er Jahre, heutzutage eher nicht so. Also lasse ich die Katze in Ruhe und frage mich stattdessen, was einige der Schauspieler wohl 20 Jahre vorher gemacht hatten, bevor der Film gedreht wurde. Und lasse es wieder. Zu deprimierend. Meine Oma hätte es mir sagen können. Sagen, was Marianne Hoppe, Lil Dagover, Heinz Rühmann, Ilse Werner, Willy Fritsch und all die anderen, die ich aus meiner Nachkriegskindheit aus dem Fernsehen kenne, damals gemacht hatten. Die Schauspieler wussten es und ihr Publikum wusste es. Alle wussten sie es.

Die dunkle Seite des Mondes.

Vielleicht schaue ich lieber doch einen englischen Krimi?

Mittwoch, 6. Oktober 2021

Das Titelbild dieses Blogs zeigt einen kleinen Ausschnitt eines Raums in der Wohnung, in der ich - mit wechselnden Menschen - seit 2004 lebe.

Auf dem Bild sieht man links im Vordergrund einen Teil unserer damaligen Couch, darauf eine Wolldecke und eine Lichterkette, dahinter ein grüner Vorhang. Im rechten Teil des Bildes geht der Blick durch eine leicht geöffnete Balkontür hinaus in den Sonnenschein, streift eine Topfpflanze, ganz hinten dann die weiße Fassade des Hauses gegenüber.

Die Couch gibt es schon lange nicht mehr, auch nicht die Wolldecke oder die Lichterkette mit den Filzblüten; vergängliche Gegenstände in einem Haushalt mit bis zu vier Kindern und diversen Haustieren. Der grüne Vorhang hängt jetzt in der Wohnung des Himmelblauen. Auch die Pflanze gibt es nicht mehr, ich kann keine Topfpflanzen. In der Topfpflanzenwelt bedeutet mein Name in unsere Sprache übersetzt vermutlich so etwas wie "Die, welche das ganz große Unheil bringt". 

Der Raum, in dem ich das Foto vor ungefähr 13 Jahren machte, war ursprünglich ein Schlafzimmer  gewesen, dann Wohnzimmer, dann wurde er ein Arbeitszimmer, dann wieder Schlafzimmer, dann wieder Wohnzimmer mit Handarbeitstisch, jetzt dient er als Esszimmer. Mal war der Durchgang zum 2. - größeren - Wohnzimmer offen, mal war er zu.

Wir haben anfangs zu viert in dieser Wohnung gelebt, dann zu fünft, dann waren wir zu sechst, und dann, ab 2012, war es etwas wie im Lied der Zehn kleinen Jägermeister, wir zählten runter, vier, drei (2014), zwei und eins (2021). 

Das Foto zeigt den Raum seitenverkehrt, denn ich habe das Abbild des Raums vom Sucher einer Mittelformatkamera abfotografiert. Eines dieser ollen Dinger, wo man oben reinguckt, und die bilden das Motiv eben seitenverkehrt ab. Ich mochte die Kamera sehr, ihre Sucherscheibe hatte keine Hilfsmarkierungen, man sah nur  dieses etwas verfremdete Bild, mit einem Wahnsinnsbokeh und viel Zartheit. Ein Quadrat aus schönstem Licht. Damals entschied ich mich für dieses Bild, als ich ein Titelbild suchte, denn ich fand, dass seine Wärme und seine Weichheit, seine Freundlichkeit und Weltfremdheit gut das spiegelten, wie ich meine Familie empfand, meine wundervolle Familie, die immer wächst, aber nie kleiner wird.

Im November sind es 17 Jahre, die wir diese Wohnung mit Leben füllen. Die Zeiten waren bunt, trubelig, streckenweise anarchisch. Sie wirbelten uns durch Elternsprechtage, Begrüßungsgottesdienste, Abschiedsgottesdienste, Museen, Notaufnahmen, Theateraufführungen, Lehrerzimmer, Martinsumzüge, Kindergeburtstage, Städtetrips, Musikschulen, Aufwachräume, Flohmärkte, Zoos, Polizeiwachen,  Mittelaltermärkte, Schwimmbäder, Spielplätze, Basare, Vorsprechen, Partys, Tierfriedhöfe, Tanzschulen, Nordseestrände, Pommesbuden, und 100 andere Orte.

Es waren wirklich gute Zeiten.

Sie sind es noch. Aber es sind andere Zeiten. 

Ein seitenverkehrtes Bild, das lauter Dinge abbildet, die längst versunken sind im Dunkel.

Und was kommt jetzt?

Jetzt kommt etwas neues.

In zwei Tagen zieht die Lässige hier ein, besser gesagt, ziehen wir hier zusammen, ich wohne nur schon etwas länger hier, bin quasi schon einmal vorgezogen.

Sie sind noch da, die Barfüßige Gräfin, Der Himmelblaue und Simson, das Walterchen und viele liebe andere. Sie haben spannende Leben, spannende Freunde, spannende Geschichten. Sie sind uns sehr verbunden, und wir sind es ihnen. Ich denke, da geht noch was.

Ich muss jetzt das Haus bestellen, für die Lässige. Die zieht nicht überall ein, die Lässige. Da mir aber sehr daran liegt, dass sie hier einzieht, mit ihrem Humor, ihrer Gelassenheit und Kreativität und ihrer 100%igen Garantie für gelingenden Hefeteig, spute ich mich.

Wir melden uns. 

Mittwoch, 29. September 2021

 So Simson, vor langer Zeit.

Mittwoch, 22. September 2021

Wat, schon so spät?!


Die Barfüßige Gräfin wird die Tage 27 Jahre alt. Ich musste an einen Post denken, den ich im März 2008 schrieb, er trägt den Titel: "Das Leben schreibt mir ne Filmszene".

In dem Text geht es darum, dass ich die Barfüßige Gräfin (damals 13 Jahre alt) und einige ihrer Freundinnen zum Proben ins Theater fahre, am Abend und in der Dunkelheit. Beim Fahren werde ich sentimental, denn mir wird klar, dass die Mädchen, die da hinten rumalbern, langsam erwachsen werden, und nicht mehr lange darauf angewiesen sein werden, dass ich sie mit meinem Auto durch die Dunkelheit fahre.

Heute fährt die Barfüßige Gräfin selber Auto. Das Theater ist ihr geblieben, sie ist dem Theater geblieben.

Sie ist aus unserer Wohnung ausgezogen, wohnt jetzt weit weg. Klar, normal in dem Alter.


Ausgezogen sind auch Simson und der Himmelblaue, nicht so weit weg. Aber auch sie haben jetzt ihr eigenes Leben. Hatten sie vorher natürlich auch. Aber sie verhüllen sich nach und nach und immer mehr. Auf einmal bin ich Gast im Leben meiner Kinder. In der einen Sekunde lupfst Du beim Windelwechseln ihren kleinen Hintern in die Höhe, während sie sich brabbelnd mit beiden Fäusten ein Spielzeug in den Mund stecken, eine Sekunde später schreibst Du sie an, fragst, ob sie Zeit haben, verabredest Du Dich mit ihnen auf ein Bierchen. Irre.

Es ist schön und schrecklich. Schrecklich schön. Ich habe Zeit für mich, viel gute Zeit. Ich trete in die  Lebensphase der Gittisierung ein (vergl. Gitte Hænning, Liedgut, diverses), nur ohne Frisur. Ich gehe nicht zur Frisörin, die mir dann sagt, dass wir mal was Verrücktes machen. So schlimm ist es nicht. Aber ich sehe mein Leben schon mit anderen Augen. Neue, alte Räume. Leer jetzt, sauber, sehr - nicht selten zu - ruhig. Bereit, neu gefüllt zu werden.


Die Barfüßige Gräfin wird die Tage 27 Jahre alt. Es ist etwas traurig, melancholisch schön, das mit den erwachsenen Kindern. Wie es der späte September eben so ist.

Montag, 10. Juni 2019

Jedes Jahr im Frühsommer gehen wir auf den Mittelaltermarkt, für die Kinder. Es ist ein Ritual. Die Kinder sind inzwschen groß, selbst die Jüngste, Simson, studiert und fährt Auto. Aber sie besteht darauf, dass wir gehen, also gehen wir, Simson, die Lässige und ich.
Jedes Jahr wächst mein Missmut mit den Preisen und der Lieblosigkeit und Kommerzialisierung. Früher waren die Schausteller anders, sie sprachen eine Sprache, die es nie gab, kein Mittelhochdeutsch, kein Hochdeutsch, sondern Mittelaltermarktschaustellersprache, das macht der Taler drei, holde Dame. Machten keinen Hehl aus ihrer Begeisterung und zogen einen etwas mit. Heute ist es freundlich und unverbindlich, fünf Euro, das Pfand können sie hier abgeben. Man kann an einigen Ständen mit EC-Karte bezahlen. Wie lieblos ist das denn?! Die Schausteller rennen in Leibchen oder Rüstung, Haube und Helm über das Gelände und glotzen dabei in ihre Smartphones. Am Eingang zahlen wir unglaubliche Summen für den Eintritt, jedes mal werden sie gefühlt größer. Die Lässige nimmt es lässig, Simson auch. Ich nicht. Jedes mal, wenn ich mich dann ernsthaft ärgern will, schaue ich Simson an. Sie bummelt von Stand zu Stand, liebäugelt mit Schmuck und Tüchern und Tinnef. Kauft Dinge für sich und die Menschen, die sie liebt. Kauft sich etwas zu essen und beißt vorsichtig ab, wertschätzend und maßvoll. So, wie sie ist. Meine Liebe zu ihr steigt in mir still und mächtig auf. Unverdientes Glück. Wer kann da wütend bleiben? Jedes Jahr erzähle ich ihr dann an dem einen bestimmten Baum, wie ich sie als Baby in eine große Schaukel gelegt hatte, von einem Korbmacher dort an einem Ast aufgehängt. Der Korbmacher kommt schon lange nicht mehr, die Erinnerung ist geblieben. Ich erzähle ihr, wie sie ruhig und aufmerksam dort auf dem Rücken lag, auf einem Kissen, sanft schaukelnd, und in das Blättergeflecht über sich blinzelte, während der Wind uns im Schatten angenehm kühlte. In dem Moment war ich glücklich gewesen. Die Art von Glück, die erst in der Rückschau klar wird. Das erzähle ich ihr und sie hört lächelnd zu.
Jedes Jahr linsen wir in die vielen Zelte und stellen uns vor, wie gemütlich es sein muss, auf einem Lager von Fellen zu schlafen. Fragen uns, was das für Menschen sind, die dieses Leben leben. Ich trinke ein Pils, sie ein Kirschbier, die Lässige eine Apfelschorle. Mein Kopf wird angenehm leicht. Wir schlendern. Jungs mit Holzschwertern, Eltern, die mit dem Handy Fotos machen. Schwarze Ritter, Burgfräulein, Hexen und Bauern.
Jedes Jahr fotografiere ich die gleichen Dinge, weil ich sie immer wieder festhalten will, ein Stilleben von Obst auf einem Zinnteller, einen gewitterschweren, dunklen Himmel über blendend weißen Zeltdächern (das Unwetter kommt nie), Dolche, Armbänder, einen Falken.
Jedes Jahr an der Schmiede: „Weißt Du noch, wie ich hier mal ein Hufeisen gemacht habe? Wo ist das eigentlich?“ Sie war noch klein gewesen und es war ein kleines Hufeisen, aber ihr Stolz war groß. Da habe ich auch ein Foto von, auch vom Stolz, den kann man nämlich sehen.
Auf dem Heimweg gehen wir über die Brücke, Wind, Himmel, Bäume und Fluss, die Lässige nimmt meine Hand.
Rituale mit ruhiger Liebe und ruhigem Glück.

Wir sind dankbar, dass sie darauf besteht.

Donnerstag, 15. März 2018

Frettchen

Wir nannten sie „Frettchen“ und haben uns auch ansonsten benommen wie die letzten Arschlöcher. Arrogante Arschlöcher, die cäsarengleich über ihr Schicksal entschieden.
Sie war als Deutsch-Referendarin in unserem Leistungskurs gelandet. Frettchen war klein, schmal, und trug trotz der warmen Temperaturen einen zu großen Mantel mit üppigem Pelzkragen. Als fröre es sie ständig in ihrem mageren, kleinen Körper. Sie schleppte eine altertümliche Aktentasche mit sich herum, nicht wie ein Accessoire, sondern wie die Bürde einer uns unbekannten Geschichte. Sie war spröde und verschlossen, alles an ihr atmete Geiz. Nichts an ihr, das charmant oder anziehend gewirkt hätte, das die Menschen ihr geneigt gemacht hätte.
Das hatte der liebe Gott alles einer anderen Referendarin geschenkt, die ebenfalls in unserem Leistungskurs gelandet war. Sie war hübsch, blond und lustig. Sie war offen, charmant, und die Herzen flogen ihr zu. Wir nannten sie bei ihrem Namen.
Es war nicht so, dass wir Frettchen aktiv demontiert hätten. Wir verweigerten uns einfach ihrer hölzernen Art und schwiegen. Wir schwiegen und verwandelten die Unterrichtsstunden für Frettchen in 45 Minuten peinliches Bemühen, wir zogen die Zeit wie quälendes Gummi arabicum und Frettchen durch den Treibsand der Verzweiflung. Einmal weinte sie. Wir meldeten uns nicht, sprachen nur auf Auffordeung, sie wurde immer verkrampfter, und in der Lehrprobe ging sie schließlich unter wie die Hindenburg. Wir rechtfertigten unser Verhalten damit, dass sie eine grauenhafte Lehrerin war (was stimmte), und dass wir ihr einen Gefallen taten, sie so früh wie möglich ihre Berufswahl überdenken zu lassen (was - wie gesagt - ziemlich arrogant war). Unser Lehrer protestierte nur schwach. Er wusste genau wie wir, dass sie als Lehrerin eine Katastrophe war. 
Die Lehrprobe der anderen Referendarin war ein einziger Triumph. Wir trugen sie auf unseren Händen durch das Ziel, wo es Blüten auf ihr Haupt regnete.
Wir hatten in Eigenregie eine komplette Schulstunde vorbereitet, Paul Celan, „Die Todesfuge“ stand auf dem Programm, wie man uns vorher gesagt hatte. Eine von uns hatte das Gedicht im Lehrerzimmer auf dem Matritzenapparat vervielfältigt, teilte es zu Beginn der Stunde aus, und dann legten wir los mit unserer zwanglosen Bildungsplauderei. Eine hatte etwas vorbereitet, um das Gedicht historisch einzuordnen, ein anderer hatte sich ein paar biographische Fakten zu Celan angelesen, dann vertieften wir uns in angeregtem Diskurs in die Bildersprache des Gedichts. Die Referendarin sprach in der gesamten Stunde vielleicht drei Sätze. Den Rest erledigten wir, freundlich, souverän und unheimlich gebildet. Eine Horde literaturbeflissener junger Menschen, die sich freuten, so fundierte Anleitung erhalten zu haben wie von der blonden Referendarin.
Sie bekam die bestmögliche Bewertung, und obendrauf wahrscheinlich noch ein kleines Sahnehäubchen. 
Am Abend war Schulkonzert, wir standen noch vor dem Tor und rauchten, da kam die blonde Referendarin die Straße hoch, ihre Eltern und eine Schwester im Schlepptau, aufgeregt auf uns deutend, uns Götterkinder, die wir ihr die wundervolle Lehrprobe beschert hatten. Sie bedankte sich überschwänglich bei uns, auch die Familie nickte freundlich.
Mir schoss es durch den Kopf, dass ich die Referendarin albern fand. Albern und etwas unwürdig.
Ich war sehr streng, als ich jung war.
Ich wollte sie so nicht sehen, als Tochter und Schwester und so emotional.
Ich wollte nicht das ganze Glück. Diese Familie schwitzte einen gemäßigten Wohlstand und eine  Harmonie aus, die mich provozierten. Blonde, glückliche Leistungsträger, die ihr Glück - das Allerschlimmste! - sich verdient hatten. Keine Superschurken, die sich ihren Reichtum bei den Armen und Hilflosen zusammengeklaut hätten. Nein, einfach nur ein paar gesunde, fleißige Bürger. Banal, furchtbar banal. Die berührten mich nicht.
Wer mich berührt hatte, war das Frettchen. Sie hatte mir leid getan, von Anfang an, und ich wollte sie beschützen. Aber das hatte ich nie jemandem erzählt. Ich habe sie einfach mit dem Rest angeschwiegen, bis sie in die Schatten zurückglitt.
Zurück ins Dunkel, in dem, wie ich überzeugt bin, so viele Ungeheuer waren und Abgründe.
Ab und an fällt mir das Frettchen ein, und noch immer möchte ich wissen, wer sie war und was sie erlebt hatte. Die Blonde hatte keine Fragen offen gelassen bei mir, das Frettchen beschäftigt mich bis heute.

Manche bleiben hängen, irgendwie.

Freitag, 9. März 2018

Ich fahre zum Recyclinghof, im Auto große Mülltüten mit Farbresten, Wandverputz, Bauschaumwürsten und alten Kabeln. Nichts für den Hausmüll also. Wenn man beim Recyclinghof auffährt, legt man als erstes bei einem der Mitarbeiter Rechenschaft ab über die Natur der zu entsorgenden Dinge. In meinem Fall zum Beispiel ist die Entsorgung kostenpflichtig. Ich hatte länger über meinen ersten Satz nachgedacht, den ich dem Mitarbeiter sagen wollte. So ein  erster Satz ist nicht unwichtig, er stellt eine Eröffnung dar, er ist grundlegend für den ganzen weiteren Verlauf unserer Geschäftsbeziehung. Mein Satz muss eindeutig sein, um nicht missverstanden zu werden, aber offen genug, damit der Mitarbeiter sich nicht bevormundet fühlt. Der Satz soll sagen, „Hier bin ich, vernunftbegabte Bürgerin unserer schönen Stadt, verantwortungsbewusst. Ich respektiere Euren Job und glaube an die Sinnhaftigkeit dieser Einrichtung. Hier bin ich, Feindin der Müll-Anarchie und zahlende Kundin. Was bin ich Ihnen schuldig, guter Mann? Wohin mit meinem Schutt?“ Dennoch darf er nicht meine Unsicherheiten durchsickern lassen: Wie viel wird der Spaß kosten? Darf ich wirklich alles entsorgen? Werden sie meine Mülltüten filzen und Dinge finden, die dort nicht hineingehören? Was wäre die Konsequenz? Lebenslange Sperrmüllsperre? Soziale Ächtung? Es ist schwierig. Ich stehe in einer Warteschlange von Autos, die Fahrer vor mir verhandeln mit dem Mitarbeiter das zukünftige Schicksal ihres Mülls. Die Warteschlange ist lang genug für mich, um meinen Eröffnungssatz gedanklich zu perfektionieren, und kurz genug, um nicht ernsthaft ungeduldig zu werden. Eine Zigarettenlänge, ziemlich genau.
Ich fahre vor bei einem jovial aussehenden Mitarbeiter. Er trägt eine Müllmannweste, Bommelmütze und Vollbart. Ein kleiner, runder Mann mit lustigen Augen. Ich fühle mich sicher. Ich betätige den elektrischen Fensterheber, lasse das Fenster herab, fixiere seine blauen Augen, bin freundlich, aber nicht anbiedernd, gelassen, aber nicht herablassend,  und heraus lasse ich das Produkt meines langen Grübelns, die in meiner Einschätzung optimale Eröffnung, den perfekten Einstieg in die zu folgende Transaktion:
„Ich habe renoviert.“, spreche ich zu ihm. Etwas würdig. Etwas entschlossen. Ich schweige und überlasse ihm den nächsten Schritt.
Seine Reaktion verwirrt mich.
„Ja, warum machen ˋse denn auch sowat?!“, brüllt er mich an. Dann lacht er.
Von hinten ruft sein Kollege: „Wenn ˋse getz wissen, wie dat geht, können ˋse bei mir weitermachen! Ich zahl´ auch schlecht!“
Die beiden beömmeln sich ausgiebig.
Ich frage mich, ob ich bei meiner Entscheidung für den optimalen Gesprächseinstieg einer Fehleinschätzung unterlegen bin.
Der Rest läuft komplikationslos, die Gebühr liegt weit unter meinen Erwartungen.

Auf der Rückfahrt beschließe ich, mal wieder, dass ich das Ruhrgebiet mag.

Mittwoch, 7. Februar 2018

Groovy

Ich stehe vor dem Woolworth und betaste ein in dünne Plastikfolie verpacktes Schaffell. Eigentlich suchte ich ein Maßband und wurde hier her geschickt, „Gehn’se mal zum Wollwert“, und da sah ich diesen Stapel Schaffelle. 1 x 2 Meter misst eines, es hat Gummizüge an den Ecken, man soll es sich über die Matratze spannen. Ich frage mich, ob das echtes Fell ist. Ein Schaf mit Matratzenmaßen. Ein Kistenschaf. Eine plüschige Box mit vier Beinen drunter. Ich muss etwas kichern. Ich drücke zögerlich die Packung mit dem Zeigefinger ein in der Hoffnung, dass sie mir etwas enthülle, das meiner wankenden Kauflaune den entscheidenden Drall gibt, aber nichts geschieht. Den Zuschlag erhält dann der knallrote Preisaufkleber, 7,99 Euro, was kann da schief laufen? Es soll für unsere neue Couch sein, für unseren nächsten gemeinsamen Abend. Du, ich, die Tochter, die Katze, alle sollen sich in das Fell wühlen und sich freuen. Es darf geschnurrt werden.
Als ich die Packung anheben will, erscheinen seitlich in meinem Blickfeld zwei Hände, die eine geöffnete Geldbörse und einen Autoschlüssel auf meinem Schaffell ablegen.
Eine schicke alte Dame, Marke Jetsetterin. Ihr haftet etwas an, das immer jungendlich wirken wird, ohne lächerlich zu sein. Schlank, stylische Klamotten, abgerockt, flusige Zerstreutheit und grenzenlose Souveränität. Eine Frau, die das Leben kennengelernt hat. Sie könnte im Plattenbau leben oder in einer Villa mit Park. Beides ist möglich, beides scheint angemessen. Es würde nichts ändern. Sie gibt mir zu verstehen, dass sie gerade am Geldautomaten Bares geholt habe und die Klientel dort ihr zu zwielichtig sei. Jetzt wolle sie hier, bei mir, in Sicherheit ihre Geldbörse wieder einräumen.
Ich freue mich, dass sie mich vertrauenswürdig findet, und schaue ihr zu. Sie sucht die Hülle ihrer EC-Karte und versucht zeitgleich, den gezogenen 50-Euro-Schein zu verstauen. Immer ist etwas im Weg, etwas in der falschen Hand, gerät ein Schnipsel in den Reißverschluss. Die Dame ist konfus. Ihr Wagenschlüssel - Audi, schwer - rutscht währenddessen langsam aber stetig die dünne Folie unseres neuen Schaffells herab Richtung Boden. Irgendwann ertrage ich die Spannung nicht mehr. Ich schnappe ihn mir und lege ihn wieder oben auf. „Der wäre gleich runtergefallen“, sage ich. „Ach wo“, sagt sie, nicht unfreundlich. Plötzlich sehe ich sie mit Gunther Sachs und seinem Gefolge auf Sylt Party machen. Ich ahne blonde lange Haare, gebräunte Haut und ein strahlend weißes Herrenhemd, nachlässig über den Bikini geworfen. Eine filterlose Zigarette zwischen schlanken Fingern, ein makelloser Sonnenuntergang am Strand der bisher verträumten Insel. Perlmuttene Übergänge im wolkenlosen Himmel.
Und im Winter dann die ganze Meute ab nach Sankt Moritz, Après Ski vor dem knisternden Kamin einer rattenscharfen Playboybude. Die Farben sind jetzt Gold und Braun, warm. Vor dem Kamin ebenfalls: Ein Schaffell, unser Schaffell.
Magic.
Dieses Ding mutiert vor meinen Augen zu einem Relikt aus Zeiten, in denen Deutschland ein einziges Mal cool gewesen war.
Meine ehemals blonde Fee hat jetzt ihre Sachen soweit gepackt und geschnürt und ihre Magie wirken lassen, und sie zieht ab, in den Plattenbau oder in die Villa, wer weiß das schon.
Ich schnappe mir das Fell und bringe es heim.
Fehlt nur noch der Kamin.

Sonntag, 4. Februar 2018

Auf Arbeit

Ich sehe ein Photo von Dir und dem kleinen Kumpel. Es war ein Sommertag gewesen. Der Kleine hatte Faxen gemacht und Du ihn dabei gefilmt. Hier, auf dem Photo, sitzt Du in einem Gartenstuhl, der Kumpel hängt über der Armlehne. Er schaut lachend auf das Display der Kamera in Deinem Schoß, und über seinen Kopf hinweg schaust Du jemanden an und lachst aus vollem Herzen. Es ist ein wirkliches, echtes Lachen voller Freude. Vielleicht berührt es mich so, weil Du dabei jemandem in die Augen schaust, im Kontakt bist. Man sieht den Sommer auf dem Bild, alles scheint leicht.
Hier und jetzt, im Winter, konjugieren die kleinen Unglücklichen um mich herum Verben, lernen, was Präteritum ist und Futur II. Es ist still. Ich schaue wieder auf Dein lachendes Gesicht.
Ich hatte geliebt, ich habe geliebt, ich liebte, ich liebe, ich werde lieben, ich werde geliebt haben.
Der Wind drückt den Regen an die Fenster, es prasselt, dahinter wiegen sich kahle Äste. Ich habe meinen Mantel im Auto gelassen, gleich muss ich da raus.
Meine Seele konjugiert jetzt still mit, ich hatte den Sommer erlebt, ich habe den Sommer erlebt, ich erlebte den Sommer, ich erlebe den Sommer, ich werde den Sommer erleben, ich werde den Sommer erlebt haben.
Ich sinke zurück in vergangenes Sommererleben. Ein Gefühl ist plötzlich ganz präsent, ich sitze an einem Sommerabend im Auto, jemand fährt, ich lehne den Kopf gegen die Scheibe und schaue träge den vorbeifliegenden Bäumen zu, hinter ihnen glitzert eine tiefstehende Sonne. Ein Luftzug bewegt meine Haare. Schwer und müde von der Hitze bin ich, mein Körper ist zufrieden, und ich lasse den Tag nachklingen. Ich bin wunschlos, ungeteilt. Das kann ich jetzt spüren, im Winter. Kein Bedarf für ein Präteritum. Doch dann, jetzt im Winter, fällt mir ein, dass an einem zukünftigen Sommertag wieder dieser eine Gedanke kommen könnte, der sich in letzter Zeit häufiger einschleicht. Dass das alles einmal vorbei sein wird, dass ich sterben kann, dass ich sterben werde. Es könnte an einem zukünftigen Sommerabend träge das Glück durch mich hindurchfließen, und dann ist er da, der Gedanke.
Ich war gestorben, ich bin gestorben, ich starb, ich sterbe, ich werde sterben, ich werde gestorben sein. Jetzt, in diesem Winter, erfüllt der Gedanke an meinen Tod mich mit diffusem Grauen, die Unfassbarkeit des Gedankens, dass mein Bewusstsein eines Tages erlöschen wird, dass eine Welt untergehen wird, mein Universum enden wird. Die Wucht macht mir Angst. Aber in der Zukunft, im Futur, an diesem kommenden Sommerabend, wird mich der Gedanke mit Wut und Hilflosigkeit erfüllen, das weiß ich. Mit Empörung darüber, dass dieses Sommererleben jemals enden wird. Dass dieses Leben enden wird.
Ich hatte mich empört, ich habe mich empört, ich empörte mich, ich empöre mich, ich werde mich empören, ich werde mich empört haben.
Ich rutsche durch die Zeiten, und jede Zeit berührt sich, so etwas müssen die Physiker meinen, die Entwürfe eines Universums zeigen, das ich nicht verstehe. Alles berührt sich. Alle Zeiten laufen nebeneinander.
Es gibt sie nicht wirklich, die Zeit. Auch, wenn die Kleinen um mich herum sie beugen müssen. 
Die Ärmsten.

Dienstag, 21. November 2017

Simson kommt aus dem Kino, „Mord im Orient Express“ gab man.
Ich bin freudig gespannt auf diesen Film, er vereint einiges, das ich mag: Agatha Christie, Kostüme, Judy Dench als fiese Fuchtel, ein Whodunit der klassischen Art.
Und Last, but not least, Michelle Pfeiffer.
Weizengülden strahlender Stern meiner Jugend.  Die Wunderschöne mit den hammer Filmen. Ätherische Muse, ferne Göttin. Wenige, ob Mann oder Frau, hetero oder homo, die nicht wenigstens etwas verknallt in sie gewesen wären. Das war ok. Dieses Wesen stand über den irdischen Beschränkungen.
Und jetzt sieht man sie endlich mal wieder in einem Film! Kenneth, Du bist ein Teufelskerl, diese Scheue noch einmal vor die Kamera bekommen zu haben.
Frag ich also gespannt Simson: „Und? Wie war der Film?“
Meint Simson ein gedecktgedehntes: „Joa...“
Ich, etwas erstaunt: „Auch Michelle Pfeiffer?“
Fragt Simson: „Die blonde Alte?“

Schwieg ich.

Donnerstag, 16. November 2017

Simson und ich sitzen im Auto. Es ist Mittag in der Großstadt, mehr als Stop and Go nicht drin. Wir philosophieren über das Leben und den Tod. Das Für und Wider der Wiedergeburt. Den Stress des Gedankens an eine mögliche postmortale Abstrafung für ein unsittliches Leben. Die Wucht des Gedankens an die eigene Nichtexistenz. Das komplette Hin und Her.
Schlicht: Den Sinn des ganzen.
Irgendwann meint Simson leicht resigniert: "Vielleicht leben wir ja auch einfach im Milchzahnexperiment von Lisa Simpson."
Rechts, auf dem Bürgersteig neben uns, fährt ein Pizzabote mit seinem Auto. Er hat keinen Bock auf den Stau. Die beiden jungen Frauen, die vor ihm gehen und ihn ausbremsen, bemerken ihn nicht. Er hupt, sie weichen erschreckt zur Seite, er fährt zügig weiter.
Manchmal sieht es so aus, als sei das ganze nur ein Milchzahnexperiment.
Hoffen wir einfach, dass Bart uns nicht findet.

Samstag, 11. November 2017

Der Morgen ist trübe. Bedeckter Himmel, diffuses Licht, Bäume ohne Schatten. Ein Herbstblues wie aus dem Kino. Unsere Insel, niederländisches Eiland, tiefes und flaches, sie schlummert. Wir lösen uns auf im Grau, der Himmel schluckt jede Regung, federt uns milde ab. Es ist gut so, schließlich sind wir im Aufbruch.
Es waren gute Tage gewesen, voll Sonne und Farbe. Voll Gold und Blau und Braun und Weiß, voll Wind und Stille und Bewegung.
Aber jetzt beladen wir schweigend das Auto.

Wenn Du in ein Ferienhaus kommst, dann sei offen.
Dann nimm und gib. Sieh Dich gut um.
Wenn Du in ein Ferienhaus kommst, dann nimm an.
Finde die Spuren derer, die vor Dir da waren, und hinterlasse Spuren für die, welche nach Dir kommen.
Stell Dein Gepäck ab und entdecke.

Die vor uns da gewesen waren, sie hinterließen uns Salz, Kaffeefilter und ein Lustiges Taschenbuch.
Wir ließen den nächsten Seife und ein Buch mit Knobelaufgaben. Außerdem drei Muscheln, auf dem kleinen Beistelltisch beim Bücherregal.

Wenn Du in ein Ferienhaus kommst, dann unterbrich nicht den Kreislauf. Nimm und gib. Flicht das Gewebe weiter. Denn dann wirst Du immer zurückkehren, egal, in welches Haus.

Wir wollen nicht gehen. Es war ein gutes Haus, freundlich und großzügig. Wir hatten eine reiche Zeit. Auf dem Heimweg reißt der Himmel auf. Wir bummeln und sammeln Bilder, immer wieder Bilder. Beobachten Kutter, essen Fisch und Pommes. Entdecken und füllen uns die Taschen, reichlich, mit Freude und Licht und Weißt-Du-Nochs. Das ist gut so, denn vor uns liegt der Winter.

Wenn der Winterschlaf kommt, dann träumen wir in unserer dunklen Höhle, dort, in der Wärme, träumen von Häusern die waren und denen, die kommen werden. Betrachten unsere Bilder und flüstern leise.

Weißt Du noch?

Samstag, 7. Oktober 2017

Frau Grabowski, die oben in der Mansardenwohnung in unserem Mietshaus wohnte, damals, vor einer Ewigkeit.
Ich erinnere mich an sie und erinnere mich nicht. Ich weiß nicht mehr, wie sie aussah oder wie sie klang.
Ein paar mal war ich in ihrer kleinen Wohnung, saß dort auf dem Sofa und machte etwas Konversation.
Brauntöne, schummriges Licht, Stille.
Ich mochte Frau Grabowski, auf eine befangene Art. Ich glaube, wir waren beide befangen, wenn ich sie besuchte. Keine Ahnung, wie eine Vier- oder Fünfjährige auf dem Sofa einer alten Dame landet, mit der sie nicht verwandt ist, ein Höflichkeitsbesuch wohl. Offensichtlich überfiel Frau Grabowski mich nicht mit Fragen oder Süßigkeiten oder Euphorie oder anderen Aufdringlichkeiten, da würde ich mich dran erinnern. Es war ruhig.
Ich fragte mich damals immer still, auf welche mirakulöse Art sie mit dem gleichnamigen Maulwurf aus meinem Bilderbuch verbunden war. Denn dass sie es war, dessen war ich mir sicher. Die ganzen Brauntöne, die Dunkelheit, dieser Hauch von Trauer, der in jedem Winkel ihrer Wohnung zu schlummern schien.
Ob sie das Buch gar geschrieben hatte? Ich traute mich nicht zu fragen.
Es war Anfang der Siebziger Jahre, und sie war schon eine alte Frau.
Sie schien keine Familie gehabt zu haben. 
Ich möchte wissen, wer sie war. Ich möchte wissen, wo sie herkam und wohin sie später ging. Ich möchte wissen, was sie besaß, was sie träumte, was sie verlor. Ich möchte ihre Erinnerungen.
Ich möchte Fragen stellen, die eine befangene Vier- oder Fünfjährige, die auf Höflichkeitsvisite geschickt wurde, nicht stellt.
Frau Grabowski ist fort, gegangen.
Es sind Spuren, die mich beschäftigen. 
Menschen, die gehen, ohne je eine Spur zu hinterlassen.
Auf Friedhöfen finden sie sich häufig, vernachlässigte Gräber, auf dem Grabstein ein einzelner Name, darunter zwei Daten. Mehr nicht.
Von den beiden Daten eingefasst ein Leben, das von niemandem mehr bezeugt wird.
Was mag alles zwischen diesen beiden Daten gelegen haben? Ein Universum an Möglichkeiten, ein ungeheurer Reichtum. Aber was auch immer es war, jetzt ist es vergangen und weggeweht, eine leichte Brise reichte aus.

Es ist diese Flüchtigkeit.

Es ist Herbst.

Sonntag, 10. September 2017

Es begab sich aber

vor ein paar längeren Tagen, dass Simson, auf dem Wohnzimmersofa liegend, ebendort kleine, schwarze, lustig springende Pünktchen entdeckte. Welche sich als Flöhe herausstellten, welche offenbar eingeschleppt worden waren vom Kater, der ein Draußenkater ist und nur ab und an hereinkommt, etwas fressen und etwas schmusen.
Was die vielen Krusten im Nacken und am Hals der Katze erklärte, welche eine reine Drinnenkatze ist und inzwischen ziemlich angepisst war.
Sie lag nur noch auf dem Boden oder auf den Schreibtischen. In. Der. Ganzen. Wohnung.
Es begann eine Zeit, die ich gerne schnell vergessen möchte.
Wenn ich zuhause war, war ich nicht wirklich zuhause. Ich war in einer Wohnung, in der ich mich nirgends mehr hinsetzen wollte. Ich putzte, saugte, räumte auf, räumte weg, schmiss weg. Der Tierarzt gab uns ein Spray für die Polster, auf Silikonbasis, total gesund, Du, sogar für Schwangere geeignet.
Das habe ich schnell ausgetauscht gegen gutes, deutsches Gift. Darauf verstehen sie sich ja, die Menschen von der Chemie, alles, was recht ist. Ich habe die Butze hier in eine no-go-area für alles, was kreucht und fleucht verwandelt. Fogger aufgestellt, die auch die letzte Spinne von der Decke geholt haben. Irgendwann, als ich mal wieder auf allen Vieren über die Böden rutschte (Gott sei dank haben wir nicht einen einzigen Teppich in der Wohnung) und mit grimmiger Genugtuung sterbende und tote Flöhe zählte, schoss mir durch den Kopf, was wäre, wenn die Buddhisten Recht hätten, und ich mir hier gerade mein Karma auf die nächsten sieben Ewigkeiten versaue. Dann fielen mir die unübersehbaren Flohbisse an meinen Knöcheln ein und ich dachte: "Sei's drum."
Es war die Hölle, der einzige Vorteil ist, dass ich ein paar Kilo abgenommen habe.
Langsam bekomme ich die Sache in den Griff.
Dazu kommt, dass ich den Schlamassel nicht unbedingt jedem auf die Nase gebunden habe, weil ich noch bürgerliche Artefakte in mir hege, die das alles etwas peinlich finden.
Bis heute.
Da besuche ich nach der Arbeit liebe Freunde, ich hatte ein paar Streicheleinheiten nötig. Als ich gehe, begleiten mich meine beiden Kumpels noch ein kleines Stück, einer marschiert vor mir, der andere hinter mir, sie intonieren zackige Wachgesänge.
Als wir voneinander scheiden, winkt der Ältere noch einmal und brüllt mir freundlich-solidarisch hinterher:
"Ich hoffe, Du wirst die Flöhe alle los!"
So. Jetzt isses raus.
Hat ja auch was Befreiendes, irgendwie.
Geoutete Flohzirkusdirektorin.
Kann auch nicht jede von sich behaupten.

Neulich, im Laden

Im Laden heute lese ich: Brotarme Wurstträger.
Es weht ein Roman von Dickens durch meine Seele, dunkel, schwer und verwoben.
Abgerissene, hohlwangige Kinder in verdreckten Lumpen, die Dauerwurstprügel für die Reichen Londons durch die Straßen schleppen.
Eine edle Gefallene, ein schurkischer Advokat, ein weiser Kramhändler, ein naiver Lehrling, eine bedrohte Unschuld, alle verstrickt in einer rußverschmierten Stadt voller Ungerechtigkeit und Heldentaten, Liebe und Hass, Mut und Feigheit.

Diese zwei Wörter erwecken Welten.
Schwer fallen die beiden Klunker in mein Wortschatzkästchen, das ich beglückt schließe. Ich werde sie beizeiten hervorholen, wenn die Nächte lang und kalt sind und der Sturm die nackten Äste an den Fensterscheiben kratzen lässt.

Neulich, auf dem CSD

Das Bild ist schon alt. Es stammt vom Kölner CSD 2007 oder 2008.
Ich taufte es: "Das bürgerliche Unbehagen".
Wobei die Eingeschnappte im Hintergrund auch nicht schlecht ist.

Sonntag, 14. Mai 2017

Mutter

Das Bild stammt aus der Süddeutschen Zeitung, leider habe ich keinen Link mehr.

Allen Müttern, vor allem jenen, die am heutigen Tag außerhalb des Fleurop-Hochglanz-Fokus liegen.

Dienstag, 2. Mai 2017

"Ich bin im Tiefbau gelandet?!"

So der Himmelblaue gerade.
Er ist der König der unkonventionellen Gesprächsauftakte. Die lebende Blutgrätsche im normierten Redefluss.
Ich sitze am Rechner und löse Zahlenrätsel.
Die Wohnungstür öffnet sich, der Himmelblaue betritt die Wohnung, bleibt neben mir im Türrahmen stehen und sagt: "Ich bin im Tiefbau gelandet?!" Empört. 
Wir haben uns seit gestern nicht gesehen. Dennoch. Kein Guten Tag, liebe Mutter, wie geht es Dir, kein Schön Dich zu sehen, meine Erzeugerin, kein Hallo, ich muss schnell aufs Klo. Nein, er stellt sich in den Türrahmen und sagt: "Ich bin im Tiefbau gelandet?!" Mit besagter Empörung.
Normalerweise bringt mich das latent auf die Palme, dieses Guerilla-Talken, weil der Rest der Unterhaltung darin besteht, ihm jeden weiteren Informationswurm mühsam aus der Nase zu ziehen. Irgendwie denkt er nämlich immer, dass nach einem solchen Auftakt die Dinge glasklar auf der Hand liegen. Heute muss ich kichern, er ist gekränkt. 
Er war beim ersten Probearbeiten in einem Betrieb, bei dem er sich um eine Ausbildungsstelle als Gala-Bauer bewarb. Und der Betrieb scheint sich eher ums Unterirdische zu kümmern. Das ist der Hintergrund.
Ich stelle wenige Fragen, es steht also eine kleine Krise ins Haus, die bekommen wir auch noch aus dem Weg.
Bis dahin freue ich mich, dass einem solche Sätze wie "Ich bin im Tiefbau gelandet?!" einfach so, im tristen Alltag, unvermutet um die Ohren schwirren wie ein kleiner, exotischer Vogel. Man hat keinen Schimmer, wo er herkam, aber er ist eine schöne Abwechslung.

Freitag, 21. April 2017

"Es ist wie beim Jazz. Der Jazz kennt keine schmutzigen Typen mehr, es ist alles aus und verloren. Überall Till Brönners, die schöne Baby-Musik machen mit Brei-Trompetchen und dafür auch noch gefeiert und herumgereicht werden, wenn auch von den falschen Leuten, auf den falschen Schultern, mit vergifteten Komplimenten.
Wer erinnert sich noch an die alles verschlingende Gier in der Stimme eines Chet Baker, wer an die Schwindsucht eines Charlie Parker, an die herbe Verschwitztheit einer Billie Holiday? Es ist nichts geblieben. Nur weiße, brave, sich selbst feiernde, stinkende Langeweile."
So Herr Andreas Glumm, ein von mir seit Jahren sehr verehrter Schreiber, in seinem Blog 500beine. Ein Zitat für meinen Vater, er weiß, wovon ich spreche.
Du siehst, lieber Herr Papa, wenn Dich die Beine auch gerade ärgern: In der Musik schwimmst Du immer noch ganz vorne weg.
Weitermachen.

Freitag, 14. April 2017

Beim Aldi, beim Bezahlen.
Ein Mann, der sich mir von hinten genähert hatte, sagt mir irgendwie so von der Seite her, dass mein Schlüssel aus der Hosentasche rage, also aus der hinteren Hosentasche, Jeanshosentasche, um genau zu sein. Etwas schulmeisterlich ist er dabei. "Sie wissen, dass Ihnen da der Schlüssel rausguckt?" Ich will die Augen verengen und die Oberlippe schürzen und den Kopf so hin- und herschieben und sagen: "Jaaaa?! Und?!" Ist mir doch wurst, ob der Schlüssel da rausguckt, aus der Gesäßtasche. Stattdessen verdrehe ich mal kurz aber prägnant meine Wirbelsäule und gucke mir selbst auf den Hintern. Und da sehe ich, dass mein Wagenschlüssel sich durch den Stoff der Tasche gebohrt hat und nach außen ragt.
Ach so meint der das.
Verdammt. Eine nächste Hose, die langsam von mir geht. Sie ist mir lieb, die Hose. Verdammt.
Die Aldibetreuerin, die den jungen, anzulernenden Aldimann an der Kasse betreut, beugt sich etwas vor und sagt zu ihm: "Wo guckt der denn hin?!"
Jetzt komme ich ins Straucheln. Ist das weibliche Solidarität, weil mir einer auf den Hintern geguckt hat (was mir bisher nicht aufgefallen war), oder ist sie verwundert, dass man mir aufs Heck linst? Sollte ich sie fragen? Es geht um meine Eitelkeit.
Ich lasse es gut sein.
Der Mann hat einen Schlüssel sich in die Freiheit bohren sehen, nicht mehr, nicht weniger. Keine Flirterei, nur Erstaunen.
An der Einpacktheke ist er plötzlich wieder da. Er hat jetzt den Schulmeister weggepackt und die Plaudertasche rausgeholt. Erzählt mir, dass er sich letztens erst eine Jeans auf seinem Sofa ruiniert hatte, so ein Loch, eine Sprungfeder hatte sich unbemerkt durch das Polster gebohrt.
Ich beschließe, dass der auf keinen Fall flirten will. Ich jedenfalls würde, wenn ich flirten wollte, beim Erstkontakt nicht unbedingt erzählen, dass daheim bei mir die Sprungfedern aus den Sitzmöbeln ragen. Bei mir zumindest hat das keinen günstigen Eindruck hinterlassen. Obwohl er sehr adrett gekleidet war.  Vielleicht bin ich auch einfach zu alt für diesen Scheiß.
Ich verabschiede mich mit einem jovialen Sachen gibts und wende mich zum Ausgang.

Beim Gehen winkt ihm mein Autoschlüssel freundlich zum Abschied.