Montag, 20. Januar 2025

"Damit der Tee sich nicht erschrickt."

So meine Großmutter Lotte, die Rote Lotte, die Backende Lotte und Lachende Lotte und Weinende Lotte, Geborene Lotte, Geehelichte Lotte, die Verlassene Lotte, seit inzwischen 25 Jahren in dem Zustand verharrend, den sie treffend "nicht mehr sein" nannte. Sie ist nicht mehr. "Wenn ich mal nicht mehr bin", so fing sie ab und an Sätze an, Sätze, die ich nicht hören wollte. Dabei endeten sie regelmäßig damit, dass mir Gold und Geschmeide verheißen wurde, Porzellan und Tinneff und Tüddeldifönes.

Eine Aufzählung von Dingen aus diesem Schleppnetz von einem Satz, den sie - ängstlich beäugt von mir - so gerne durch die dunklen Tiefen der Ungewissheit gezogen hatte:

Eine Aluminiumgabel, Feldbesteck von Onkel Werner. (Schwager. Russland. Kalt. Keine Heldengeschichten, eher Kummer und Schweigen.) Ein komisches Ding, diese Gabel, zu groß, zu leicht, unangenehm an den Zähnen. In der bundesrepublikanischen Zeit erfuhr sie in der Küche der Fürsorgenden Lotte eine pazifistische Umwidmung zur Bratengabel, erpiekste den Gargrad von Fleisch, (die Kochende Lotte), Schwerter zu Pflugscharen.

Dann ein Milchkännchen, Porzellan, bauchig, breite Schnute, pastellfarbene dicke Farbtupfer auf weißem Grund, freundlich und bescheiden perfekt. Wäre es ein Kind, man wollte es den ganzen Tag küssen und herzen.

Eine Suppenkelle, von der die Erschütterte Lotte schwor, dass sie an der einzig verbliebenen aufrecht stehenden Wand der ansonsten nicht mehr vorhandenen Wohnung in Düsselddorf gehangen hatte, nach den Bomben.

Eine Kaffeetasse aus der Reihe Vieux Strasbourg von Villeroy&Boch. Der Henkel der Tasse war abgebrochen, und durch einen Sprung im Porzellan kroch seit langem das Wasser unter die Glasur. Das Besondere an der Tasse ihr Zweck: In ihr rührte die Sinnenfreudige Lotte die Schwitze an, um ihre Bratensoßen zu binden. Und diese Soßen, die hatten es in sich. Meine Kindheit durch quetschte ich zusammen: Salzkartoffeln, Erbsen und Möhren plus Bratensoße. Dann reinschaufeln als gäbe es kein morgen (dabei warteten schon Vanilleeis, heiße Himbeeren und Schlagsahne). Das war Glück. Das echte. Kein Nachbau, keine Imitation. Das krass originale. Einfach so am Sonntagmittag bei der Oma in der Etagenwohnung am Esstisch kam es zu mir, ich konnte es mir reinschrauben in Form von Erbsen und Möhren und Kartoffeln und größtmütterlicher Bratensoße.

Natürlich ihre Schmuckschatulle, Schatzkästchen der Nichtganzsowohlhabenden Lotte. Manchmal schickte sie mich ihn holen, ihren Schatz, schwarzes Leder und roter Samt, und dann ließen wir uns die Reichtümer durch die Finger gleiten, bewunderten Perlen, testeten Broschen, probierten Ohrringe. Meine Highlights: Ein Bettelarmband (o so viele Goldmünzen, ein ondulierter Piratenschatz im Sonntagsstaat), und ein paar kleine gelbliche Dingelchen am Boden der Schatulle, in einem Kramfach, etwas kryptisch, etwas katholisch, Milchzähne von meinem Bruder und mir, Reichtümer der Liebenden Lotte. Dann, mittendrin im Goldrausch: "Das alles bekommst Du, wenn ich mal nicht mehr bin", und wir waren dann beide etwas schweigsam und etwas bewegt. Ich wollte dann immmer sagen, dass ich das nicht wollte wenn es das brauchte  um es zu bekommen, aber wir waren ja nicht doof wir beiden Lotten, doppeltes Lottchen, doppelte Lottenpower, doppelte Rührseligkeit, doppelte Sentimentalität, doppelte Bereitwilligkeit zu glauben, ohne fromm zu sein, glauben an Engel, Gespenster, Verbundenheit, Geschichten, Edelmut, gutes Essen und die Liebe, und wir wussten, dass es keinen Weg vorbei gab an dem Punkt, ab dem sie mal nicht mehr sein würde.

Was sie mir auch hinterließ, etwas für die kalten Tage, etwas Immaterielles, es ist kein Spruch, keine Weisheit, kein Rezept. Eigentlich war es nur eine seltsame Erklärung und eine sehr bildhafte Erklärung und irgendwie fühlte ich es sofort: Ich stand neben ihr in der Küche, als sie ihre Teekanne mit heißem Wasser vorwärmte, und ich fragte, warum sie das mache, und sie sagte: "Damit der Tee sich nicht erschrickt." Und ich sah ihn, den heißen Tee, wie er beim Aufgebrühtwerden panisch die Füße hochriss, um nicht an die Wände der eiskalten Teekanne zu geraten, doch vergebens, und der Mensch schlürft anschließend in sich hinein frustrierten und verärgerten Tee, das kann nicht gesund sein. Deshalb beherzige ich das, wärme jedes Mal die Teekanne vor und habe es nie bereut, bedeutet es doch guten heißen Tee, der - strahlend in der ihm gezeigten Wertschätzung - mir bereitwillig den Körper wärmt bis in die Fußspitzen.  

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