Donnerstag, 22. September 2016

Ungut


Ich warte im Auto an einer roten Ampel.
Rechts von mir ein Ladenlokal, das zu einer Ausgabestelle umfunktioniert wurde. Geflüchtete Menschen können sich hier Kleidung und Dinge holen, die sie benötigen. Auf dem Bürgersteig stehen Familien, Frauen mit Kindern, Männer, einer trägt ein Baby.
Da ist dieser Junge, vielleicht zehn Jahre alt. Er trägt ein blaues Fußball-Trikot. Er fährt ein zu großes Damenrad, er fährt es ein, noch schwankt er etwas. Sein Vater ruft ihm Dinge zu.
Ich frage mich, ob der Junge den gleichen rauschenden Stolz fühlt wie ich damals, als ich das Fahrradfahren anfing zu beherrschen. 
Ich schaue in den Rückspiegel. Die Frau im Wagen hinter mir lehnt über den Beifahrersitz. Mit ausgestreckten Armen fotografiert sie die Menschengruppe. Sie hält ihr Handy quer, um alles draufzubekommen. Dann lässt sie die Arme sinken und beginnt zu texten.
Ich weiß nicht, was sie schreibt und warum sie es schreibt. Ich mag offene Situationen. 
Eigentlich.
Eigentlich hätte ich die nächsten 20 oder 30 Minuten damit verbracht, im Kopf Skizzen zu entwerfen, wer die Frau ist und warum sie fotografierte. Es hätte mir Freude bereitet, es wäre lebendig gewesen.
Jetzt aber zieht sich mein Magen zusammen. Wut kommt. Zweifel, ob ich der Frau Unrecht tue. 
Anstatt im Kopf vergnügt zu skizzieren, anstatt verschiedene Realitäten und Lesbarkeiten auszuprobieren fürchte ich, Zeugin eines ungehörigen Aktes geworden zu sein und fürchte ich gleichzeitig, paranoid zu sein.
Ich will das nicht.
Die Rechten haben es geschafft, bei mir jedenfalls.
Ich habe Angst und ich habe das Gefühl, dass sich unser Land unangenehm verändert hat. Ich habe Angst vor den Rechten. Ich finde, sie verändern das Klima.
Später schaue ich erneut in den Rückspiegel.
Die Frau hinter mir ist vielleicht Ende 40, blondgefärbte Kurzhaarfrisur und in den Ohren große Creolen. Sie schaukeln im Takt mit dem Nippes, der an ihrem Rückspiegel baumelt. Sie kaut mit offenem Mund Kaugummi und blickt teilnahmslos auf den Verkehr.
Es fällt mir zu ihr nichts ein, nichts Gutes und nichts Schlechtes, nichts Fröhliches oder Tragisches. Sie ist eine mittelalte Frau in einem südkoreanischen Kleinwagen, mehr nicht.
Ich mag es nicht

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