Donnerstag, 17. Mai 2012

Alles Tony, oder was?

Die Erwachsene formerly known as Pubertierende, TEFKAP, soll für ihren Deutsch-LK die Buddenbrooks lesen, was sie aber bis jetzt nicht getan hat, weil sie das Buch langweilig und wohl auch irgendwie bürgerlich findet. Im Gegensatz zu mir, denn schon als ich im Alter der TEFKAP war, gehörte die Geschichte um die dekadente Truppe aus Lübeck definitiv zu den Top 3 meiner Alles-Romane. Ich hätte in die Händchen geklatscht vor Freude, wenn man von mir verlangt hätte, für den Unterricht die Buddenbrooks zu lesen; das wäre gewesen, als hätte man mich dafür bezahlt, ausgedehnte Schaumbäder zu nehmen. Aber sei es drum, die TEFKAP rührt den Schinken nicht an, ums Verrecken nicht. Sie murmelte mir etwas von Handtke und "deutscher Beschreibungsimpotenz", da hänge sie gerade, ich sagte nichts mehr.
Allerdings erzählte ich ihr von Stellen aus dem Buch, die mich besonders beeindruckt hatten. So das Ende. Wir erinnern uns: Tony sitzt, als alternde Frau, vereinsamt und verarmt, in ihrem kleinen Wohnzimmer, zusammen mit Sesemi Weichbrodt, ihrer alten Lehrerin, und ein, zwei entfernten Verwandten,  und schaut zurück auf all die geliebten Menschen, die sie in ihrem Leben verloren hat. Sie schämt sich für ihre manchmal empfundenen Zweifel am Sinn des Ganzen und wagt nicht so ganz, auf ein Wiedersehen zu hoffen (in der nächsten Welt, versteht sich). Und da erhebt sich Sesemi zu ihrem großen Auftritt und zum Ende des Buches:

"Da aber kam Sesemi Weichbrodt am Tische in die Höhe, so hoch sie nur irgend konnte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, reckte den Hals, pochte auf die Platte, und die Haube zitterte auf ihrem Kopfe.
'Es ist so!' sagte sie mit ihrer ganzen Kraft und blickte alle herausfordernd an.
Sie stand da, eine Siegerin in dem guten Streite, den sie während der Zeit ihres Lebens gegen die Anfechtungen von seiten ihrer Lehrerinnenvernunft geführt hatte, bucklig, winzig und bebend vor Überzeugung, eine kleine, strafende, begeisterte Prophetin."
(Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie, Fischer Verlag, Frankf. 1989, S. 758 f.)

Ja, diese Stelle also erzählte ich der TEFKAP, zusammen mit ein paar anderen Stellen.
Jetzt fügte es sich, dass die TEFKAP in der Schule sitzt, Deutsch-LK, und man bespricht die Buddenbrooks. Meldet sich ein nettes Mädchen und sagt, ihr sei aufgefallen, dass das Buch mit Tony als kleinem Mädchen beginne und Tony als alternder Frau ende. Die Lehrerin nickt wohlwollend. So, und jetzt kommts. Meldet sich die TEFKAP und meint, genaugenommen ende das Buch ja mit Sesemi Weichbrodt, der kleinen, strafenden Prophetin. Die Lehrerin ist begeistert, das nette Mädel vernichtet.
Und ich bin wirklich etwas irritiert. Ich fühle mich, als hätte ich Beihilfe bei einem Verbrechen geleistet. Und überlege, dem netten Mädchen, das sich offensichtlich durch den gesamten Schinken gequält hat, anonym einen kleinen Blumenstrauß zukommen zu lassen.

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