Donnerstag, 15. März 2018

Frettchen

Wir nannten sie „Frettchen“ und haben uns auch ansonsten benommen wie die letzten Arschlöcher. Arrogante Arschlöcher, die cäsarengleich über ihr Schicksal entschieden.
Sie war als Deutsch-Referendarin in unserem Leistungskurs gelandet. Frettchen war klein, schmal, und trug trotz der warmen Temperaturen einen zu großen Mantel mit üppigem Pelzkragen. Als fröre es sie ständig in ihrem mageren, kleinen Körper. Sie schleppte eine altertümliche Aktentasche mit sich herum, nicht wie ein Accessoire, sondern wie die Bürde einer uns unbekannten Geschichte. Sie war spröde und verschlossen, alles an ihr atmete Geiz. Nichts an ihr, das charmant oder anziehend gewirkt hätte, das die Menschen ihr geneigt gemacht hätte.
Das hatte der liebe Gott alles einer anderen Referendarin geschenkt, die ebenfalls in unserem Leistungskurs gelandet war. Sie war hübsch, blond und lustig. Sie war offen, charmant, und die Herzen flogen ihr zu. Wir nannten sie bei ihrem Namen.
Es war nicht so, dass wir Frettchen aktiv demontiert hätten. Wir verweigerten uns einfach ihrer hölzernen Art und schwiegen. Wir schwiegen und verwandelten die Unterrichtsstunden für Frettchen in 45 Minuten peinliches Bemühen, wir zogen die Zeit wie quälendes Gummi arabicum und Frettchen durch den Treibsand der Verzweiflung. Einmal weinte sie. Wir meldeten uns nicht, sprachen nur auf Auffordeung, sie wurde immer verkrampfter, und in der Lehrprobe ging sie schließlich unter wie die Hindenburg. Wir rechtfertigten unser Verhalten damit, dass sie eine grauenhafte Lehrerin war (was stimmte), und dass wir ihr einen Gefallen taten, sie so früh wie möglich ihre Berufswahl überdenken zu lassen (was - wie gesagt - ziemlich arrogant war). Unser Lehrer protestierte nur schwach. Er wusste genau wie wir, dass sie als Lehrerin eine Katastrophe war. 
Die Lehrprobe der anderen Referendarin war ein einziger Triumph. Wir trugen sie auf unseren Händen durch das Ziel, wo es Blüten auf ihr Haupt regnete.
Wir hatten in Eigenregie eine komplette Schulstunde vorbereitet, Paul Celan, „Die Todesfuge“ stand auf dem Programm, wie man uns vorher gesagt hatte. Eine von uns hatte das Gedicht im Lehrerzimmer auf dem Matritzenapparat vervielfältigt, teilte es zu Beginn der Stunde aus, und dann legten wir los mit unserer zwanglosen Bildungsplauderei. Eine hatte etwas vorbereitet, um das Gedicht historisch einzuordnen, ein anderer hatte sich ein paar biographische Fakten zu Celan angelesen, dann vertieften wir uns in angeregtem Diskurs in die Bildersprache des Gedichts. Die Referendarin sprach in der gesamten Stunde vielleicht drei Sätze. Den Rest erledigten wir, freundlich, souverän und unheimlich gebildet. Eine Horde literaturbeflissener junger Menschen, die sich freuten, so fundierte Anleitung erhalten zu haben wie von der blonden Referendarin.
Sie bekam die bestmögliche Bewertung, und obendrauf wahrscheinlich noch ein kleines Sahnehäubchen. 
Am Abend war Schulkonzert, wir standen noch vor dem Tor und rauchten, da kam die blonde Referendarin die Straße hoch, ihre Eltern und eine Schwester im Schlepptau, aufgeregt auf uns deutend, uns Götterkinder, die wir ihr die wundervolle Lehrprobe beschert hatten. Sie bedankte sich überschwänglich bei uns, auch die Familie nickte freundlich.
Mir schoss es durch den Kopf, dass ich die Referendarin albern fand. Albern und etwas unwürdig.
Ich war sehr streng, als ich jung war.
Ich wollte sie so nicht sehen, als Tochter und Schwester und so emotional.
Ich wollte nicht das ganze Glück. Diese Familie schwitzte einen gemäßigten Wohlstand und eine  Harmonie aus, die mich provozierten. Blonde, glückliche Leistungsträger, die ihr Glück - das Allerschlimmste! - sich verdient hatten. Keine Superschurken, die sich ihren Reichtum bei den Armen und Hilflosen zusammengeklaut hätten. Nein, einfach nur ein paar gesunde, fleißige Bürger. Banal, furchtbar banal. Die berührten mich nicht.
Wer mich berührt hatte, war das Frettchen. Sie hatte mir leid getan, von Anfang an, und ich wollte sie beschützen. Aber das hatte ich nie jemandem erzählt. Ich habe sie einfach mit dem Rest angeschwiegen, bis sie in die Schatten zurückglitt.
Zurück ins Dunkel, in dem, wie ich überzeugt bin, so viele Ungeheuer waren und Abgründe.
Ab und an fällt mir das Frettchen ein, und noch immer möchte ich wissen, wer sie war und was sie erlebt hatte. Die Blonde hatte keine Fragen offen gelassen bei mir, das Frettchen beschäftigt mich bis heute.

Manche bleiben hängen, irgendwie.

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