Montag, 10. Juni 2019

Jedes Jahr im Frühsommer gehen wir auf den Mittelaltermarkt, für die Kinder. Es ist ein Ritual. Die Kinder sind inzwschen groß, selbst die Jüngste, Simson, studiert und fährt Auto. Aber sie besteht darauf, dass wir gehen, also gehen wir, Simson, die Lässige und ich.
Jedes Jahr wächst mein Missmut mit den Preisen und der Lieblosigkeit und Kommerzialisierung. Früher waren die Schausteller anders, sie sprachen eine Sprache, die es nie gab, kein Mittelhochdeutsch, kein Hochdeutsch, sondern Mittelaltermarktschaustellersprache, das macht der Taler drei, holde Dame. Machten keinen Hehl aus ihrer Begeisterung und zogen einen etwas mit. Heute ist es freundlich und unverbindlich, fünf Euro, das Pfand können sie hier abgeben. Man kann an einigen Ständen mit EC-Karte bezahlen. Wie lieblos ist das denn?! Die Schausteller rennen in Leibchen oder Rüstung, Haube und Helm über das Gelände und glotzen dabei in ihre Smartphones. Am Eingang zahlen wir unglaubliche Summen für den Eintritt, jedes mal werden sie gefühlt größer. Die Lässige nimmt es lässig, Simson auch. Ich nicht. Jedes mal, wenn ich mich dann ernsthaft ärgern will, schaue ich Simson an. Sie bummelt von Stand zu Stand, liebäugelt mit Schmuck und Tüchern und Tinnef. Kauft Dinge für sich und die Menschen, die sie liebt. Kauft sich etwas zu essen und beißt vorsichtig ab, wertschätzend und maßvoll. So, wie sie ist. Meine Liebe zu ihr steigt in mir still und mächtig auf. Unverdientes Glück. Wer kann da wütend bleiben? Jedes Jahr erzähle ich ihr dann an dem einen bestimmten Baum, wie ich sie als Baby in eine große Schaukel gelegt hatte, von einem Korbmacher dort an einem Ast aufgehängt. Der Korbmacher kommt schon lange nicht mehr, die Erinnerung ist geblieben. Ich erzähle ihr, wie sie ruhig und aufmerksam dort auf dem Rücken lag, auf einem Kissen, sanft schaukelnd, und in das Blättergeflecht über sich blinzelte, während der Wind uns im Schatten angenehm kühlte. In dem Moment war ich glücklich gewesen. Die Art von Glück, die erst in der Rückschau klar wird. Das erzähle ich ihr und sie hört lächelnd zu.
Jedes Jahr linsen wir in die vielen Zelte und stellen uns vor, wie gemütlich es sein muss, auf einem Lager von Fellen zu schlafen. Fragen uns, was das für Menschen sind, die dieses Leben leben. Ich trinke ein Pils, sie ein Kirschbier, die Lässige eine Apfelschorle. Mein Kopf wird angenehm leicht. Wir schlendern. Jungs mit Holzschwertern, Eltern, die mit dem Handy Fotos machen. Schwarze Ritter, Burgfräulein, Hexen und Bauern.
Jedes Jahr fotografiere ich die gleichen Dinge, weil ich sie immer wieder festhalten will, ein Stilleben von Obst auf einem Zinnteller, einen gewitterschweren, dunklen Himmel über blendend weißen Zeltdächern (das Unwetter kommt nie), Dolche, Armbänder, einen Falken.
Jedes Jahr an der Schmiede: „Weißt Du noch, wie ich hier mal ein Hufeisen gemacht habe? Wo ist das eigentlich?“ Sie war noch klein gewesen und es war ein kleines Hufeisen, aber ihr Stolz war groß. Da habe ich auch ein Foto von, auch vom Stolz, den kann man nämlich sehen.
Auf dem Heimweg gehen wir über die Brücke, Wind, Himmel, Bäume und Fluss, die Lässige nimmt meine Hand.
Rituale mit ruhiger Liebe und ruhigem Glück.

Wir sind dankbar, dass sie darauf besteht.

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